Hinweis: Der folgende Text ist ein Gastbeitrag. Er gibt die persönliche Auffassung der Autorin beziehungsweise des Autors wieder. Der Beitrag ist keine Meinungsäußerung des Bundesministeriums für Gesundheit.

Gastbeitrag: Ricarda Piepenhagen

Der Gastbeitrag von Ricarda Piepenhagen, Gründerin der Patientenorganisation NichtGenesen, befasst sich mit den Versorgungsbedarfen von Patienten mit Long COVID, ME/CFS und dem Post-Vac-Syndrom. Aus der Perspektive der Betroffenen von postinfektiösen Erkrankungen werden die Herausforderungen beschrieben, die sich für die Erkrankten selbst, aber auch für Wissenschaft, Medizin und Gesellschaft insgesamt ergeben.

Veröffentlicht am: 25.03.2025 

© Martin Börner

Forschung, Versorgung und Anerkennung für Menschen mit ME/CFS und postinfektiösen Syndromen

Dass Menschen mit Aids nach der Entdeckung der Krankheit 1981 zunächst diskriminiert und stigmatisiert wurden, ist heute eine allgemein anerkannte Tatsache. Erst als Aktivisten, progressive Politiker und Wissenschaftler begannen, sich gegen die Diskriminierung einzusetzen, kam es langsam zu einem Paradigmenwechsel im Umgang mit der Krankheit. Aufklärungskampagnen wie die der Politikerin Rita Süssmuth, die 1985 eine Aids-Broschüre an alle deutschen Haushalte verteilen ließ, sorgten dafür, dass an Aids Erkrankte weniger stigmatisiert wurden. Süssmuths Motto lautete: „Wir bekämpfen die Krankheit, nicht die Betroffenen”. 

Postakute Infektionssyndrome (PAIS) wie ME/CFS (Myalgische Enzephalomyelitis / Chronisches Fatigue-Syndrom) wurden jahrzehntelang kaum beachtet und psychologisiert. Erst mit der SARS-CoV-2-Pandemie und dem gehäuften Auftreten von Long COVID wurde diesen Krankheitsbildern mehr Aufmerksamkeit geschenkt. Große Aufklärungskampagnen, die sich an Medizin und Gesellschaft richten, fehlen jedoch nach wie vor. Die stetig wachsende Zahl von Patientenorganisationen kann diese gesamtgesellschaftliche Aufgabe nicht alleine bewältigen. Die Betroffenen sind auf die Unterstützung von Politik, Wissenschaft und dem Gesundheitswesen angewiesen.

NichtGenesen setzt sich unabhängig vom Auslöser für die Erforschung, Versorgung und Anerkennung postinfektiöser Syndrome wie ME/CFS oder Long beziehungsweise Post COVID, sowie das Post-Vac-Syndrom ein. Die Initiative NichtGenesen ist ein Zusammenschluss aus Erkrankten und deren Angehörigen, von denen sich mehrere Hundert politisch engagieren. Zu Beginn konzentrierte sich NichtGenesen auf öffentlichkeitswirksame Visualisierungen, um die Situation der Betroffenen für Politik, Medizin und Gesellschaft sichtbar zu machen. Der große Bedarf führte schnell zu einer Ausweitung der Tätigkeitsfelder. Mittlerweile ist NichtGenesen auf Bundes- und Landesebene mit Akteuren aus Gesundheitswesen und Politik vernetzt. Täglich erreichen uns Anfragen von verzweifelten Betroffenen, weshalb wir zusätzlich in allen 16 Bundesländern begleitete Selbsthilfegruppen anbieten.

Zwischen 31 und 53 Prozent der Patienten mit Post COVID erfüllen nach sechs Monaten Krankheitsdauer die Diagnosekriterien für ME/CFS (Kedor et al., 2021; Haffke et al., 2022; Legler et al., 2023; Reuken et al., 2023; Davis et al., 2023). Alle Patienten mit ME/CFS und mindestens 74 Prozent der Post-COVID-Patienten leiden an PEM, kurz für Post-Exertionelle Malaise (Wright et al., 2022; REHADAT, 2023; Twomey et. al, 2022; Mclaughlin et al., 2023;). Es beschreibt eine Intoleranz gegenüber jeder Form der Belastung und bedeutet die Verschlechterung der Symptomatik nach geringfügiger körperlicher und/oder geistiger Anstrengung. Der Übergang zwischen Post-COVID-Patienten mit PEM und ME/CFS-Patienten ist fließend. Weitere Symptome, die bei allen drei Erkrankungen auftreten können, sind Fatigue, also eine starke Erschöpfung, die sich durch Ruhe und Schlaf nicht bessert, sowie kardiologische, neurologische, gastroenterologische und pneumologische Beschwerden.

Unterschiede in der Schwere der Betroffenheit bei den Patienten

Unter den ME/CFS-Patienten gibt es leicht Betroffene, die beispielsweise noch teilweise arbeitsfähig sind, aber auch schwer Betroffene, die sich beispielsweise nicht mehr selbst die Zähne putzen oder ihr Essen kauen können, ohne eine Verschlechterung ihres Zustandes zu erleiden. Im schwersten Stadium kann ME/CFS tödlich verlaufen – auch für junge Betroffene (Hoffmann et. al., 2024). Nach Angaben der Kassenärztlichen Bundesvereinigung (KBV) gab es in Deutschland im Jahr 2021 circa 500.000 ME/CFS-Patienten (Angaben der KBV, 2023). Zwei Jahre später liegt diese Zahl nach aktuellen Daten der KBV bereits bei 620.000 (Riffreporter, 2024). Diese Zahl ist durch COVID massiv angestiegen und lag laut einem IQWiG-Bericht im Auftrag des BMG in präpandemischen Zeiten zwischen 140.000 und 310.000 (IQWiG, 2023). 

Nicht zuletzt aufgrund der wirtschaftlichen Auswirkungen von Long COVID, ME/CFS und Post-Vac ist schnelles Handeln erforderlich. 400 Millionen Menschen sind weltweit von Long COVID betroffen, belasten die Gesundheits- und Sozialsysteme und fehlen zu einem großen Teil dem Arbeitsmarkt. Der daraus resultierende volkswirtschaftliche Schaden beläuft sich auf 1 Prozent der Weltwirtschaft (Al-Aly, Davis, McCorkell et al., 2024). Bezogen auf Deutschland entspricht dies circa 42 Mrd. Euro im Jahr 2023.

Auch im Kontext des aktuellen Fachkräftemangels spielen postinfektiöse Erkrankungen eine signifikante Rolle. 55 Prozent der Long-COVID-Patienten sind arbeitsunfähig, bei ME/CFS-Patienten sind es sogar 60 Prozent (REHADAT, 2023; Bateman et al., 2014). Die Prävalenz von Long oder Post COVID liegt Studien zufolge bei 3,1 Prozent oder mehr (Rea, Pawelek, Ayoubkhani, 2023; Kuang et al., 2023; WHO, 2023; CDC, o.A.). Dies entspricht in Deutschland mindestens 2,58 Millionen Betroffenen. Für das Post-Vac-Syndrom ist die Datenlage nicht ausreichend, um eine Aussage treffen zu können. Insgesamt verdeutlichen diese Zahlen jedoch, dass diese Erkrankungen weitreichende Auswirkungen haben, die die gesamte Gesellschaft betreffen.

Trotz Richtlinie: Versorgung ist längst nicht ausreichend

Knapp fünf Jahre nach Beginn der Pandemie ist ein Großteil der Betroffenen jedoch weitgehend unversorgt. Nach der Long-COVID-Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses (G-BA) soll die Versorgung der Patienten in drei Stufen erfolgen: Zunächst die hausärztliche Versorgung, dann die fachärztliche Versorgung und schließlich die ambulante spezialfachärztliche Versorgung (G-BA, 2024). In der Praxis scheitert dies jedoch an mehreren Stellen. Die Richtlinie des G-BA, die für alle drei Krankheitsbilder gilt, legt fest, dass eine Überweisung in die ambulante spezialfachärztliche Versorgung spätestens dann zu erwägen ist, „wenn eine dreimonatige Arbeitsunfähigkeit, eine vierwöchige Schulunfähigkeit oder eine ME/CFS-Erkrankung mit mindestens mittelschwerem Schweregrad vorliegt”. In einigen Bundesländern, wie zum Beispiel Berlin, gibt es jedoch keine einzige Ambulanz für Patienten mit Long COVID. Der Andrang auf die bundesweit wenigen vorhandenen Ambulanzen ist dementsprechend groß, oft mit sehr langen Wartezeiten. Post-Vac-Patienten erhalten häufig aufgrund ihres Krankheitsauslösers keinen Zugang zur spezialisierten Versorgung. Die bestehenden Spezial- und Universitätsambulanzen, die Zugang zur Diagnostik ermöglichen, reichen nicht aus, um alle Betroffenen adäquat zu versorgen. Für die mehr als 620.000 ME/CFS-Patienten gibt es bundesweit nur zwei spezialisierte ME/CFS-Ambulanzen. Zum Vergleich: In Deutschland gibt es eine Ambulanz für circa 1.500 Multiple-Sklerose-Betroffene (DMSG, 2022). Gerade Schwer- und Schwerstbetroffene mit ME/CFS, welche bettlägerig sind, fallen durch das Raster und haben meist keinerlei Versorgung. Die Voraussetzungen wären auch hier in der G-BA Richtlinie gegeben durch „aufsuchende Versorgung“ und „telemedizinische Betreuung“. Die Umsetzung der G-BA-Richtlinie ist damit nicht erfüllt. 

Haus- und Fachärzte verfügen häufig nicht über das notwendige Wissen zur Versorgung der Patienten. Dies liegt unter anderem daran, dass postinfektiöse Krankheitsbilder wie ME/CFS kein fester Bestandteil der medizinischen Ausbildung sind und erst im Rahmen der Pandemie an Aufmerksamkeit gewonnen haben. Nur wenige Ärzte haben an Fortbildungen zu den Krankheitsbildern teilgenommen, da das Angebot zu gering ist und teilweise kein Interesse besteht.

Forschungsbedarf und gesamtgesellschaftlicher Auftrag

Um die prekäre Situation der Betroffenen grundlegend zu verbessern, müssen Programme zur Grundlagen-, Therapie- und Arzneimittelforschung langfristig angelegt und entsprechend finanziert werden. Da es bisher kein zugelassenes Medikament zur kausalen Therapie der Patienten gibt, ist der kurzfristige Einsatz von Off-Label-Medikamenten zur Symptomlinderung und damit zur Behandlung dringend erforderlich. Darüber hinaus bedarf es an wesentlich mehr Anlaufstellen für Patienten in Form von Spezial- und Universitätsambulanzen. Wiederkehrende Fortbildungen für behandelnde Haus- und Fachärzte sind von großer Bedeutung. Wichtig ist auch, dass die sozialrechtliche Anerkennung der Krankheitsbilder verbessert wird. Viel zu häufig werden Patienten im Rahmen von Rehabilitationsmaßnahmen, Begutachtungen für eine Erwerbsminderungsrente, eine Pflegestufe oder einen Grad der Behinderung psychologisiert und stigmatisiert. Dies führt dazu, dass Betroffene oft nicht die Leistungen erhalten, die ihnen zustehen. Auch muss Schluss sein mit kontraindizierten Therapien wie der Graded Exercise Therapy (GET) bei bestehender PEM, die fast immer zu einer Verschlechterung des Zustands der Betroffenen führt, die teilweise dauerhaft sein kann (Breedvelt et al., 2023; Hammer et al., 2023; Appelman et al., 2024).

Wir haben jetzt als Gesellschaft die Chance, aus der Vergangenheit zu lernen und mit postinfektiösen Syndromen besser umzugehen als wir es bei Krankheiten wie Aids getan haben. Ob wir diese Chance nutzen, hängt von den entsprechenden Entscheidungsträgern ab. Sicher ist jedoch, dass die Problematik von Tag zu Tag drängender wird und wir Betroffenen so schnell wie möglich niedrigschwellige Hilfe von Politik, dem Gesundheits- und Sozialwesen benötigen.

Literatur

Kedor et al. (2021), Chronic COVID-19 Syndrome and Chronic Fatigue Syndrome (ME/CFS) following the first pandemic wave in Germany – a first analysis of a prospective observational study 

Haffke et al. (2022). Endothelial dysfunction and altered endothelial biomarkers in patients with post-COVID-19 syndrome and chronic fatigue syndrome (ME/CFS)

Legler et al. (2023). Symptom persistence and biomarkers in post-COVID-19/chronic fatigue 2 syndrome – results from a prospective observational cohort (preprint)

Reuken et al. (2023). Longterm course of neuropsychological symptoms and ME/CFS after SARS-CoV-2-infection: a prospective registry study

Davis et al. (2023). Long COVID: major findings, mechanisms and recommendations. 

Wright et al. (04/2022): The Relationship between Physical Activity and Long COVID: A Cross-Sectional Study; 

REHADAT (04/2023): Long COVID im Arbeitsleben. Ergebnisse der REHADAT-Befragung von Menschen mit Long COVID zu ihrer beruflichen Situation;

Twomey et al. (2022): Chronic Fatigue and Postexertional Malaise in People Living With Long COVID: An Observational Study; 

Mclaughlin et al. (07/2023): A Cross-Sectional Study of Symptom Prevalence, Frequency, Severity, and Impact of Long-COVID in Scotland: Part I.

Hoffmann et. al. (2024). Interdisziplinäres, kollaboratives D-A-CH Konsensus-Statement zur Diagnostik und Behandlung von Myalgischer Enzephalomyelitis/Chronischem Fatigue-Syndrom

Kassenärztliche Bundesvereinigung. (2023). https://www.bundestag.de/ausschuesse/a14_gesundheit/oeffentliche_anhoerungen/936116-936116 (Abruf 30.09.2024)

Riffreporter. (2024). Zahl der Behandlungsfälle wegen ME/CFS auf neues Rekordhoch gestiegen. https://www.riffreporter.de/de/wissen/mecfs-long-covid-krankheitsfaelle-kbv-behandlung (Abruf 16.12.2024)

IQWiG. (2023). https://www.iqwig.de/presse/pressemitteilungen/pressemitteilungen-detailseite_93184.html (Abruf 11.10.2024)

Rea, Pawelek, Ayoubkhani. (2023). Prevalence of ongoing symptoms following coronavirus (COVID-19) infection in the UK

Kuang et al. (2023). Insights on Canadian Society. Experiences of Canadians with long-term symptoms following COVID-19

WHO. (2023). Statement – 36 million people across the European Region may have developed long COVID over the first 3 years of the pandemic (Abruf 04.02.2024)

Centers for Disease Control and Prevention (CDC). (o.A.). Long Covid. Household Pulse Survey. https://www.cdc.gov/nchs/covid19/pulse/long-covid.htm (Abruf 12.10.2024). 

Al-Aly, Davis, McCorkell et al. (2024). Long COVID science, research and policy. Nat Med 30, 2148–2164. https://doi.org/10.1038/s41591-024-03173-6 

REHADAT. (2023). Long COVID im Arbeitsleben. Ergebnisse der REHADAT-Befragung von Menschen mit Long COVID zu ihrer beruflichen Situation. https://www.rehadat.de/export/sites/rehadat-2021/lokale-downloads/rehadat-publikationen/auswertung-umfrage-long-covid.pdf (Abruf 12.10.2024)

Bateman et al. (2014). Chronic fatigue syndrome and comorbid and consequent conditions: evidence from a multi-site clinical epidemiology study

Gemeinsamer Bundesausschuss (G-BA). (2024). Richtlinie des Gemeinsamen Bundesausschusses über eine berufsgruppenübergreifende, koordinierte und strukturierte Versorgung für Versicherte mit Verdacht auf Long-COVID und Erkrankungen, die eine ähnliche Ursache oder Krankheitsausprägung aufweisen. https://www.g-ba.de/richtlinien/141/ 

DMSG. (2022). Multiple Sklerose Register der DMSG, Bundesverband e.V. Berichtsband 2021

Breedvelt et al. (2023). Physical exertion worsens symptoms in patients with post-COVID condition 

Hammer et al. (2023). Qualitative results of an online survey on patients’ experiences with inpatient rehabilitation for post COVID-19 condition (long COVID)

Appelman et al. (2024). Muscle abnormalities worsen after post-exertional malaise in long COVID

Vita

Ricarda Piepenhagen ist die Gründerin der Patientenorganisation NichtGenesen. Die Patientenorganisation vertritt die Interessen von Betroffenen mit Long-/Post-COVID, ME/CFS und Post-Vac-Syndrom sowie allgemein von Betroffenen mit Postinfektiösem Syndrom (PAIS). In ihrem Gastbeitrag werden historische Parallelen aufgezeigt, die Situation der Betroffenen erläutert und dringender Handlungsbedarf aus Patientensicht aufgezeigt.

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