Hinweis: Der folgende Text ist ein Gastbeitrag. Er gibt die persönliche Auffassung der Autorin beziehungsweise des Autors wieder. Der Beitrag ist keine Meinungsäußerung des Bundesministeriums für Gesundheit.
Gastbeitrag: Anja Piel
Anja Piel, Mitglied des Geschäftsführenden Bundesvorstands des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB), erläutert in ihrem Gastbeitrag, warum Long COVID eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung ist, und was benötigt wird, um Betroffenen besser helfen zu können.
Veröffentlicht am 08.01.2024
Long COVID: eine gesamtgesellschaftliche Herausforderung
Die Dimension der Herausforderung, vor der wir als Gesellschaft stehen, wird zunehmend klarer: Hunderttausende Menschen in Deutschland kämpfen nach ihrer Infektion mit den Langzeitwirkungen einer Coronaerkrankung – Tendenz steigend. Bislang existieren noch keine evidenzbasierten und langfristig wirksamen Behandlungsoptionen. Die bisherige unzureichende Forschung zu den Langzeitfolgen von Infektionskrankheiten wurde durch die Pandemie offengelegt. Ein eklatanter Mangel an Fachwissen in Diagnostik und Behandlung von Betroffenen sowie das Fehlen spezialisierter Einrichtungen und zielgerichteter Therapiekonzepte stellen nach wie vor ein erhebliches Problem dar.
Neben den erheblichen gesundheitlichen Folgen für die Betroffenen haben die Auswirkungen von Long COVID auch eine zunehmende ökonomische Dimension. Allein für das Jahr 2021 schätzten Wissenschaftler der Frankfurt School of Finance die volkswirtschaftlichen Kosten (gemessen am Verlust der Bruttowertschöpfung) auf 5,7 Mrd. Euro. Zusätzlich wurden Gesundheits- und Rentensysteme mit schätzungsweise weiteren 1,7 Mrd. Euro belastet. Im Hinblick auf die seither gestiegene Zahl an Betroffenen muss nun von weitaus höheren Kosten ausgegangen werden. Da Betroffene oft lange arbeitsunfähig bleiben, verstärkt sich durch Long COVID zusätzlich der Fachkräftemangel in vielen Branchen in Deutschland und beeinträchtigt damit auch die wirtschaftliche Entwicklung. Jetzt mit politischer Vehemenz und mit zielgenauem Einsatz ausreichender finanzieller Mittel zu handeln, ist solidarischer Umgang mit den Betroffenen und ihren Angehörigen und die richtige Herangehensweise, um die schweren ökonomischen Folgen von Long COVID abzuwenden.
Mehr Unterstützung für Betroffene: Konkrete Forderungen und notwendige Handlungsschritte
Die Herausforderungen, die sich durch Long COVID ergeben, sind vielfältig und umfangreich. Es ist daher von zentraler Bedeutung, dass wir als Gesellschaft gemeinsam handeln, um eine bessere Versorgung und soziale Absicherung der Betroffenen sowie fortschrittliche Forschung im Sinne einer zielgenauen Behandlung zu gewährleisten.
Bessere Versorgung ermöglichen
Als Deutscher Gewerkschaftsbund (DGB) setzen wir uns für eine nachhaltige Verbesserung der Versorgung von Long-COVID-Betroffenen ein. Dafür sprechen wir uns für den Ausbau und die Förderung eines flächendeckenden Netzwerks von COVID-Ambulanzen aus. Hier sind insbesondere die Länder gefordert. Ein deutschlandweites Netzwerk von Kompetenzzentren und interdisziplinären COVID-Ambulanzen ist von entscheidender Bedeutung, um eine konzentrierte Expertise für Diagnose, Therapie und Beratung auf höchstem Niveau zu gewährleisten. Zudem muss der sogenannte ‚Off-Label-Use‘ von Medikamenten ermöglicht werden und die Expertengruppe des BfArM die entsprechende Liste schnellstmöglich erstellen, um die Versorgung mit den entsprechenden Medikamenten als Kassenleistung zu ermöglichen. Außerdem müssen wirksame Standardtherapien entwickelt und in den Leistungskatalog der gesetzlichen Krankenkassen aufgenommen werden.
Soziale Absicherung stärken
Zusätzlich sprechen wir uns für eine intensivere Zusammenarbeit der Sozialversicherungsträger aus. Bestehende Konzepte müssen so weiterentwickelt werden, dass eine nahtlose Verknüpfung von Akuttherapie, Rehamaßnahmen und Maßnahmen zur Wiedereingliederung erreicht werden kann. Damit die Sozialversicherungsträger ihre wichtigen Rollen ausfüllen können, muss aber auch ihre Leistungsfähigkeit langfristig finanziell abgesichert werden. Die Politik muss dafür die Weichen stellen und ihrer Verantwortung zur Stärkung der Solidarsysteme umfassend gerecht werden. Das bedeutet zum Beispiel auch, dass endlich ausnahmslos alle versicherungsfremden und gesamtgesellschaftlichen Leistungen der Sozialversicherungen durch staatliche Mittel finanziert werden müssen. Auch Angebote zur Wiedereingliederung müssen sich an den individuellen Bedürfnissen der Betroffenen orientieren. Arbeitgeber sollten daher flexible Arbeitszeitmodelle ermöglichen und individuelle Unterstützung am Arbeitsplatz bieten. Dazu gehört auch, dass Arbeitgeber betroffene Beschäftigte mit ihren Beschwerden ernst nehmen und gemeinsam an behutsamen Wegen zur Wiedereingliederung in den Beruf arbeiten.
Ein weiteres wichtiges Anliegen ist für uns, dass eine im Arbeitskontext erworbene Long-Covid-Erkrankung als Berufskrankheit leichter anerkannt werden kann. Denn auch außerhalb des Gesundheitsdienstes oder der Wohlfahrtspflege gibt es viele weitere Branchen, in denen erhebliche Gefährdungen bestehen, sich mit dem Coronavirus zu infizieren und Long COVID zu entwickeln. Die erleichtere Anerkennung als Berufskrankheit würde den Betroffenen den Zugang zu umfangreicheren Leistungen der gesetzlichen Unfallversicherung verbessern sowie ihre finanzielle Absicherung deutlich stärken. Daneben sehen wir auch das Problem, dass aus Mangel an umfangreichen und zweifelsfrei feststellbaren ‚Biomarkern‘, Betroffene durch das Raster der Sozialsysteme fallen können. Zu den großen gesundheitlichen Herausforderungen mischen sich dann noch existenzielle Nöte, die eine Rückkehr ins gesellschaftliche Leben weiter erschweren und auch Angehörige stark belasten. Hier sind bessere Abstimmungen aller Sozialversicherungsträger notwendig, denn ein funktionierender Sozialstaat darf Betroffene auch jenseits der medizinischen Behandlung nicht im Stich lassen.
Einschlägige Forschung fördern
Trotz aller Bemühungen gibt es immer noch zu wenig wirksame Versorgungsoptionen für Betroffene. Für eine effektive Verbesserung der Behandlungsmöglichkeiten ist eine kontinuierliche und erhöhte Bereitstellung von Forschungsmitteln erforderlich. Die knapp 150 Millionen Euro, die für das Haushaltsjahr 2024 für die Versorgungsforschung vorgesehen sind, müssen für die Folgejahre verstetigt und kontinuierlich erhöht werden. Ein besonderes Augenmerk muss hier weiterhin auf die Versorgung von Kindern und Jugendlichen gelegt werden, um auf die besonderen Bedürfnisse dieser Betroffenengruppe eingehen zu können. Zudem ist eine verbesserte Vernetzung von nationalen und internationalen Forschungsvorhaben notwendig, damit Erkenntnisse gebündelt und wirksame Therapien schneller entwickelt werden können.
Es muss jetzt noch intensiver als bisher zum Schulterschluss aller beteiligten Akteure kommen, damit wir die große gesamtgesellschaftliche Herausforderung Long COVID gemeinsam bewältigen können.
Vita
Anja Piel ist Mitglied des Geschäftsführenden Bundesvorstands des Deutschen Gewerkschaftsbundes (DGB). Die gelernte Industriekauffrau und ehemalige Fraktionsvorsitzende der Grünen-Landtagsfraktion in Niedersachsen ist ebenfalls Alternierende Vorsitzende des Verwaltungsrates der Bundesagentur für Arbeit (BA), des Bundesvorstandes der Deutschen Rentenversicherung (DRV) Bund sowie Mitglied des Sozialbeirats der Bundesregierung.