Hinweis: Der folgende Text ist ein Gastbeitrag. Er gibt die persönliche Auffassung der Autorin beziehungsweise des Autors wieder. Der Beitrag ist keine Meinungsäußerung des Bundesministeriums für Gesundheit.
Gastbeitrag: Ph.D. Akiko Iwasaki
Die vier möglichen Hauptursachen von Long COVID
Long COVID betrifft schätzungsweise 65 Millionen Menschen weltweit. Es handelt sich um eine heterogene Erkrankung, die in ihren Ursachen noch nicht ganz verstanden ist. Wahrscheinlich gibt es aber mehrere mögliche Hauptursachen, welche sich gegenseitig nicht ausschließen. In einem Gastbeitrag erklärt von Ph.D. Akiko Iwasaki vier mögliche Hypothesen der Entstehung von Long COVID.
Veröffentlicht am 12.07.2023
Es gibt vier mögliche Hauptursachen, die gleichzeitig oder nacheinander Long COVID bei Patientinnen und Patienten auslösen können. Manche Personen mit Long COVID leiden womöglich unter einer dieser Hauptursachen, während bei anderen Personen zwei, drei oder alle Hauptursachen zusammenkommen. Für eine wirksame Behandlung müssen wir diese zugrunde liegenden Ursachen kennen und in randomisierten placebokontrollierten klinischen Studien zielgerichtete Therapien testen.
Wir untersuchen vier Hauptursachen von Long COVID.
- Persistierende Virusinfektion mit SARS-CoV-2: Einer großen Anzahl von Berichten zufolge sind Monate nach der Infektion in verschiedenen Geweben Virusantigene und RNA nachweisbar ebenso wie das zirkulierende Spikeprotein. Aufgrund dieser Hypothese führen wir und andere mit Long-COVID-Patientinnen und -Patienten randomisierte placebokontrollierte klinische Studien mit dem Virusstatikum Paxlovid durch. Im Rahmen der Yale PaxLC-Studie hofft man zu verstehen, wer warum positiv auf Paxlovid reagiert. Außerdem sollen erfolgreiche Biomarker identifiziert werden, damit Patientinnen und Patienten, die solche Biomarker aufweisen, künftig mit Paxlovid behandelt werden können.
- Autoimmunität: Virusinfektionen lösen bekanntermaßen verschiedene Bystander-Effekte aus und aktivieren kreuzreaktive autoreaktive Lymphozyten, die Autoimmunerkrankungen verursachen. Wir haben die Anwesenheit von Autoantikörpern gegen extrazelluläre Antigene in Patientinnen und Patienten mit Long COVID untersucht, konnten jedoch keine signifikanten Unterschiede im Vergleich zu Genesenen feststellen. Autoreaktive T-Zellen und Antikörper gegen intrazelluläre Autoantigene können jedoch eine Rolle spielen.
- Latente Virusreaktivierung: Wir und andere sehen Anzeichen für eine Reaktivierung von Herpesviren, darunter das Epstein-Barr-Virus und das Varicella-Zoster-Virus. Diese reaktivierten Viren selbst können die Symptome von Long COVID hervorrufen. Darüber hinaus erweitern wir die Untersuchung, um festzustellen, ob endogene Retroviren auch aberrant exprimiert werden können und Symptome verursachen.
- Chronische Gewebe-Dysfunktion: Wir haben chronische Schäden im Gehirn von Mäusen nachgewiesen, die sieben Wochen zuvor an milden respiratorischen COVID-19-Symptomen litten. In dieser Studie waren entzündliche Immunfaktoren (Zytokine und Chemokine) für einige der Gehirn-Phänotypen verantwortlich. Es ist möglich, dass durch COVID-19 verursachte entzündliche Auslöser in einer Vielzahl von Geweben zu chronischen Funktionsstörungen führen können.
Neben diesen Hauptursachen können zahlreiche nachgelagerte physiologische Veränderungen auftreten, wie etwa Mikrogerinnsel-Bildung, Plättchenaktivierung, Verringerung der Sauerstoffausnutzung im Gewebe, mitochondriale Dysfunktion und ein niedriger Cortisolspiegel. In unserer Studie waren niedrige Cortisolwerte im Blut das charakteristischste Merkmal bei Long-COVID-Patientinnen und -Patienten. Ein solches hormonelles Ungleichgewicht kann einige der berichteten Symptome erklären.
Doch nicht nur COVID-19 verursacht nach der akuten Phase chronische Erkrankungen. Es gibt viele andere virale und nicht-virale Pathogene, die ebenfalls das postakute Infektionssyndrom (PAIS) hervorrufen können. Durch die Untersuchung der Krankheitsentstehung von Long COVID können Einblicke in den Mechanismus anderer PAIS gewonnen werden, wie etwa die Myalgische Enzephalomyelitis und das Chronische Fatigue-Syndrom (ME/CFS).
Dieser Text ist die Übersetzung eines Beitrags, der von der Autorin im Original auf Englisch verfasst wurde.
Vita
Akiko Iwasaki, Ph.D. ist Sterling-Professor für Immunbiologie an der School of Medicine der Yale University. Ihre Forschung fokussiert sich auf die Mechanismen der Immunabwehr gegen Viren auf der Schleimhautoberfläche, die die wichtigste Eintrittspforte für Infektionserreger darstellt. Prof. Iwasaki promovierte an der University of Toronto in Immunologie und absolvierte ihre postdoktorale Ausbildung am National Institute of Health, bevor sie im Jahr 2000 an die School of Medicine der Yale University ging. Sie erhielt zahlreiche Auszeichnungen und Ehrungen, darunter 2023 den Else Kröner Fresenius Preis für Medizinische Forschung, und ist seit 2014 Howard Hughes Medical Institute Investigator. 2018 wurde sie in die National Academy of Sciences gewählt, 2019 in die National Academy of Medicine und 2021 in die American Academy of Arts and Sciences. Prof. Iwasaki zählte während der COVID-19-Pandemie zu den führenden Wissenschaftlerinnen und ist auch dafür bekannt, dass sie auf Twitter für Frauen und unterrepräsentierte Minderheiten in Wissenschaft und Medizin eintritt. Sie wurde 2023 in die „STATUS List of Leaders in Life Sciences“ aufgenommen. Iwasaki ist Direktorin des Center for Infection and Immunity und steht an der Spitze mehrerer Long-COVID-Studien, darunter die Mount-Sinai Yale Long-COVID-Studie, die Yale LISTEN-Studie und die Yale Paxlovid-Studie.